Am Anfang dieser Betrachtung sollen ein paar Gedanken stehen, die zunächst weit hergeholt erscheinen mögen. Es geht mir um die „Goldene Regel“, jene in vielen Gesellschaften seit Jahrhunderten geltende Richtschnur für den zwischenmenschlichen Umgang. Diese „Goldene Regel“ wird auf zweierlei Art formuliert:
– Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.
– Oder – bei uns als Spruchweisheit bekannt: „Was du nicht willst das man dir tu’, das füg auch keinen andern zu.“
Diese Merksätze beschreiben gegenseitigen Respekt, die Fähigkeit, sich in den Anderen hineinzuversetzen, und sie plädieren für den fairen Umgang untereinander. Handelten auch Staaten unter einander nach dieser Regel, lebten wir in einer friedlichen Welt. Dass die „Goldene Regel“ häufig nicht angewandt wird, mag daran liegen, dass zwar jeder die Regelverletzungen des Anderen sofort erkennt, die eigene Verstöße aber nicht.
Nach dieser nachdenklichen Vorbemerkung will ich zu erklären versuchen, warum sich die EU und das Vereinigte Königreich beim Aushandeln ihrer Beziehungen nach dem Brexit so schwer tun, eine Vertragsgrundlage zu finden. Seit März wurden in vier Verhandlungsrunden kaum Fortschritte erzielt, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 16.6.2020. Es scheint in der britischen Regierung inzwischen zwar eine gewisse Nachdenklichkeit zu geben, doch angesichts dessen, was um den Brexit seit 2016 geschehen ist, bin ich skeptisch.
Die Briten haben erklärt, sie wollten den Vertrag mit der EU bis Ende des Jahres erreichen – ein so gut wie unmögliches Unterfangen. Die Möglichkeit für einen Antrag auf Fristverlängerung ist am 30.6.2020 abgelaufen. Boris Johnson steuert mit Volldampf in den ungeregelten Brexit. Seine grundsätzliche Zielrichtung ist klar. Im Interesse der britischen Wirtschaft will er – ja muss er für die britischen Waren weiterhin den freien Zugang auf den europäischen Binnenmarkt erreichen. Doch diesem Vorhaben steht der Slogan der Brexiteers diametral entgegen: „We want our country back“, wir wollen die Regeln für unser Land selbst festlegen und vor allem den Bereich der Wirtschaft und des Handels nicht den „Bürokraten“ in Brüssel überlassen. Bei evtl. auftretenden Streitigkeiten lehnt Johnson die Zuständigkeit des EuGH ab.
Dies bedeutet, dass das Vereinigte Königreich künftig auf dem Binnenmarkt nach besonderen Regeln agieren will. Was für ein fundamentaler Widerspruch: So, als wollten die Kinder von nebenan in Nachbars Garten spielen aber erwarten, sie könnten dies ohne Rücksicht auf die angelegten Beete tun. Johnson will für die britischen Waren dadurch einen Wettbewerbsvorteil erreichen, dass er sich nicht an die auf dem Binnenmarkt für alle Marktteilnehmer gültigen EU-Standards zum Umweltschutz, zum Verbraucherschutz, zum Arbeitsschutz und an die europäischen Sozialstandards halten muss sondern seine eigenen, möglichst niedrigeren Standards mitbringen kann. Und obendrein, sollte es Streit geben, sollen nicht die üblicherweise für den Binnenmarkt zuständigen europäischen Gerichte sondern die eigenen, die britischen Gerichte entscheiden. Es wäre geradezu kontraproduktiv für die europäischen Wettbewerber, würde die EU mit ihren ehrgeizigen Zielen für den Klima- und Umweltschutz den Briten erlauben, sich an diese Vorgaben nicht halten zu müssen. Fairer Handel auf dem europäischen Binnenmarkt braucht gleiche Startbedingungen für alle Markteilnehmer.
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