„Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen!“ – Meinungsbeitrag von Hans Müller

Es ist interessant zu beobachten, wie die verantwortlichen Politiker in ihren jeweiligen Ländern mit der Corona-Pandemie umgehen. Für alle gilt das vorrangige Ziel: Den Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung. Wie erfolgreich sie dabei sind zeigen die Zahlenreihen und die Kurven der Seuchen- und Gesundheitsexperten.

Schon der normale Zeitungsleser und Tagesschau-Seher kann erkennen: In den Vereinigten Staaten steht ein Dilettant am Steuer, der lange Zeit gebraucht hat, um überhaupt den Ernst der Lage zu erkennen. Wer neben der üblichen Tageszeitung mehrere andere Blätter liest und sich auch in amerikanischen Medien informiert, kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Am 11.4.2020 veröffentlichte die New York Times einen umfangreichen Bericht, an dem sechs Journalistinnen und Journalisten gearbeitet hatten. Darin wurde dargestellt, wie irreführend, unkoordiniert, inkompetent und auch widersprüchlich in Donald Trumps Weißem Haus mit der Krise umgegangen wurde. Schon am 5.4. lautete eine NYT- Überschrift: „So geht es, wenn ein Narzisst eine Krise bearbeitet.“

Der amerikanische Präsident hatte zunächst gemutmaßt, das Virus werde eines Tages auf wundersame Weise wieder verschwinden: dann hat er die Demokraten und die Medien beschuldigt, mit dem Virus gegen ihn Politik zu machen, nur um später zu erzählen, er habe die Pandemie gefühlt, lange bevor man von einer Pandemie gesprochen habe.

Inzwischen hält der amerikanische Präsident im Weißen Haus fast täglich die sog. Corona-Briefings ab, eine sonderbare Politik-Show, voll Eigenlob, Angriffen auf die Gouverneure verschiedner Bundesstaaten – insbesondere wenn diese von den Demokraten kommen oder – noch schlimmer – wenn es sich um eine Gouverneurin wie Gretchen Whitmer aus Michigan handelt. Harsche Kritik müssen sich auch die Führungspersönlichkeiten der Demokraten, Rep. Nancy Pelosi und Sen. Chuck Schumer gefallen lassen und vor allem Journalisten die kritische Fragen stellen, müssen damit rechnen, abgekanzelt zu werden. „Schließt den Vorhang über Trumps Torheiten“, schrieb die New York Times über die manchmal surreal erscheinenden Veranstaltungen.

Aus europäischem Blickwinkel sind die jüngsten Demonstrationen gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die Schließung von Betrieben und Geschäften in den USA nicht zu verstehen. Hupende Autokorsos fahren vorbei und Fahnen schwenkende Demonstranten – teils schwer bewaffnet, wie z.B. in Lansing, Michigan – stehen auf den Stufen des Gouverneursgebäudes und fordern, die Wirtschaft wieder hochzufahren. Der Präsident äußerte mehrmals Verständnis für die Demonstrationen – vor allem, wenn sie in Bundesstaaten liefen, die von Gouverneuren der Demokraten regiert werden.

Ein beklemmender Aspekt dazu: Das amerikanische Sozialsystem ist äußerst dünn gestrickt. Wer arbeitslos wird, verliert häufig den Krankenschutz. So etwas wie Kurzarbeitergeld ist nicht vorgesehen. Arbeitslosigkeit bedeutet häufig für die Betroffenen, sich in die länger werdenden Schlangen an den Suppenküchen und Tafeln einzureihen. Wer aber dort anstehen muss, ist empfänglich für Trump-Slogans wie „Befreit Michigan, Minnesota und Virginia. Organisiert werden die Demos i.d.R. von konservativen Vereinigungen, die schon in der Tea Party Bewegung Erfahrungen im „Kampf gegen die da oben“ gesammelt haben. Dass ihre Vorstellungswelt widersprüchlich ist, scheint die Demonstranten nicht zu stören. Einerseits die Forderung: Wir wollen zurück zur Arbeit weil unsere Familien sonst nicht durchkommen Andererseits: lehnen sie sozialpolitische Verbesserung als „linksextremistisch“ ab.

All das sind primär amerikanische Angelegenheiten, mit denen sich die Amerikaner beschäftigen müssen – evtl. im November an der Wahlurne. Europa ist jedoch berührt, wenn sich Trump mit internationalen Organisationen anlegt, etwa bei der angedrohten Einstellung der Zahlungen an die WHO. Die habe ihren Job nicht gut gemacht, sei zu China-freundlich, habe zu späte über den Corona-Virus gewarnt. Die Washington Post berichtete dazu, dass amerikanische Wissenschaftler und Ärzte, die bei der WHO tätig waren, schon Ende 2019 vor einer Pandemie gewarnt haben – Trump scheint dies nicht zu stören. Er braucht Sündenböcke. Und hier wird der amerikanische Präsident zum Vorbild für europäische und deutsche Nationalisten. Selbst ernannte „Euroskeptiker“, die den europäischen Integrationsprozess stoppen oder gar zurückdrehen wollen. Es gibt politische Kräfte, die halten wenig vom Euro und viel von Grenzzäunen.

Wir als überzeugt Europäer wissen, dass es kleine und große Fehler in den EU-Strukturen gibt. Wir wissen aber auch, dass es nicht darum gehen kann, deshalb die EU zu zerschlagen. Es geht vielmehr darum, die Fehler zu korrigieren. Es bedarf gemeinsamer Anstrengung, Europa vor allem wirtschaftlich stärker, transparenter, demokratischer, solidarischer und zu einem Kontinent der Bildung, Ausbildung und Wissenschaft zu machen. Die Aussage der Kanzlerin von 2017 ist aktueller denn je: „Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen!“ Denn Trump wird früher oder später die die EU wieder ins Visier nehmen – spätesten wenn Boris Johnson Hilfe braucht im Brexit-Poker.


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